Von Roland Schellwald Männer signalisieren durch einen lackierten Fingernagel, dass sie sich gegen Kindesmissbrauch einsetzen. © fotoliaIm Sommer 2014 brandete die Ice Bucket Challenge wie eine Welle um die Welt, um Spenden zur Bekämpfung der Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zu sammeln. Viele Mitstreiter findet jedes Jahr die „Movember“-Aktion, bei der sich Männer im November einen Schnurrbart wachsen lassen, um das Bewusstsein für Prostatakrebs zu stärken. Seit Ende vergangenen Jahres etabliert sich ein ähnlicher Trend, der von Australien aus jetzt auch Europa erreicht: Männer rund um den Globus greifen zum Nagellack, um ein Signal gegen Kindesmissbrauch zu setzen. Einem kleinen Mädchen aus Kambodscha namens Thea ist es zu verdanken, dass Kindesmissbrauch weltweit wieder verstärkt thematisiert wird. Der Australier Elliot Costello lernte die kleine Thea auf einer Asien-Reise kennen. Als er erfährt, dass das Mädchen jahrelang sexuell missbraucht wurde, berührt ihn das sehr. Theas Schicksal löst die Kampagne aus Theas Leidensgeschichte beginnt, als ihre Mutter sie nach dem Tod des Vaters in ein vermeintlich sicheres Waisenhaus bringt. Sie ist erst acht Jahre alt, als sie dort vom Leiter des Heimes zum ersten Mal vergewaltigt wird. Zwei Jahre lang wird sie täglich von ihm missbraucht. Sie ist verzweifelt und weiß nicht, wie sie sich gegen das Martyrium wehren soll. Trotz dieses schweren Schicksals ist Thea ein junger Mensch geblieben, der seine Gefühle nicht versteckt. Während Elliot Costello mit Thea spielt, malt sie ihm mit Filzstift ein Herz auf die Hand und lackiert seine Fingernägel hellblau. Zum Abschied verspricht er ihr, sich immer einen Fingernagel zu lackieren, um sie und ihr Schicksal in Erinnerung zu behalten. Aus diesem kleinen Treffen entwickelte sich schließlich die Kampagne. Männer mit lackierten Nägeln erregen Aufmerksamkeit Als Costello wieder zu Hause in Australien ist, startet er die Kampagne #PolishedMan (auf Deutsch: polierter Mann), die Männer dazu aufruft, durch einen lackierten Fingernagel ein Zeichen gegen Kindesmissbrauch zu setzen. Der eine lackierte Nagel an einem der fünf Finger einer Hand steht dabei symbolisch dafür, dass eines von fünf Kindern weltweit Opfer sexueller Gewalt ist. Innerhalb kurzer Zeit befinden sich bei Instagram unter dem Hashtag #PolishedMan 2.000 Bilder von Männern mit lackiertem Fingernagel. Auch Promis schließen sich der Kampagne an, zum Beispiel der Schauspieler Hugh Jackman und auch seine Kollegen Ashton Kutcher und Alec Baldwin unterstützen die Aktion. Natürlich wird dabei nicht nur das Thema Kindesmissbrauch angesprochen, sondern es werden auch Spenden gesammelt. Bis Ende des Jahres 2015 kamen so bereits 220.000 Euro für Programme und Initiativen gegen Kindesmissbrauch und zur Förderung der Bildung missbrauchter Kinder zusammen. www.polishedman.comEine Buchpremiere vorige Woche in Berlin, ein Club voller Menschen in teuren Sneakers, viel Medienprominenz. Der Schriftsteller, Ende dreißig, betritt die Bühne im Anzug, und als er den Mikrofonständer knarzend etwas höher stellt, erkennt man im Scheinwerferlicht sein auffallendstes Accessoire: knallblauen Nagellack. Er ist nicht der Einzige auf diesem Event. Und es handelt sich dabei auch nicht um eine dieser "Typisch Berlin"-Episoden. Nein, wer derzeit etwas näher an die Fotos von roten Teppichen heranzoomt, egal ob diese in New York, Paris oder L. A. ausliegen, erblickt an den Fingerspitzen männlicher Schauspieler, Sänger, Rapper oder sonstiger Stilikonen immer wieder exakt dieses Detail: bunt lackierte Nägel.
Ja, das gab es schon mal. Aber anders als vor 20 Jahren die Emos, vor 30 Jahren Kurt Cobain und vor 40 Jahren David Bowie ist das Stilmittel der bunten Fingerspitzen plötzlich nicht mehr Erkennungsmerkmal nerdiger Subkulturen oder einzelner betont schräg gebrandeter Indie-Stars. Nein, es ist bei den wichtigsten Vertretern der erfolgreichsten Kultursparten der Welt angekommen, mit anderen Worten: mitten im Mainstream. Harry Styles etwa taucht seit Monaten so gut wie nie ohne regenbogenfarben bemalte Nägel auf. Der Rapper Asap Rocky lässt sich offenbar für fast jedes Instagram-Foto neue, aufwendig gedruckte Bilder auf die Finger applizieren. Sein Kollege Machine Gun Kelly, der neben seiner Vorliebe für Schmuck und Nagellack derzeit vor allem dafür bekannt ist, mit seiner Freundin Megan Fox auf roten Teppichen zu knutschen, bringt diesen Herbst sogar eine eigene Nagellack-Linie heraus. Zur Nagelpflege gehen manche Männer schon ein paar Jahre. Doch das hier ist mehrUnd der puertoricanische Megapopstar Bad Bunny (35 Millionen Follower auf Instagram) zeigt auf dem aktuellen Cover von Allure gerade, was man noch alles machen kann, wenn einem der Lack zu zweidimensional wird: Er trägt zehn Dominosteine statt Fingernägeln (die er sonst am liebsten spitz zugefeilt und in Neongrün bevorzugt). Es ist jedenfalls kein Wunder, dass das US-Herrenmagazin Esquire schon mal das "Jahr der Menicure" ausgerufen hat. Dabei leitet der Begriff der "Manniküre" natürlich ein bisschen in die Irre, denn über die Pflege, wie sie vor ungefähr zehn Jahren in Mode kam, geht der Trend weit hinaus. Damals öffneten in Innenstadtlagen plötzlich hippe Männer-Maniküreläden. In diesen Etablissements mit Namen wie "Hammer & Nagel" konnte der Großstadtkerl sich die Nagelhaut abzuppeln und die strapazierten Nägel feilen und polieren lassen. Die gepflegte Hand war das Insigne des modernen Mannes. Aber knallblaue Farbe oder gar Dominosteine zu applizieren? Wäre dort undenkbar gewesen. Nun aber zeigt sich: Mehr und mehr junge Männer fühlen sich offenbar wohl mit den kolorierten Krallen. Und zwar längst nicht nur exaltierte Stars wie die oben erwähnten. Während der ersten Monate der Pandemie verkauften sich Brancheninsidern zufolge Sets für die Maniküre zu Hause auffallend gut. Klar, die Salons hatten zu. Der Lockdown habe aber auch neugierigen Männern einen "Safe Space gegeben, um mit dem Experimentieren zu beginnen", erklärte kürzlich ein junger Gründer einer Beauty-Linie für Männer dem Magazin Business of Fashion, das in einem Artikel den Trend ergründet. Darin sagt eine Branchenexpertin, Fingernägel seien für junge Erwachsene eine Art "Einstiegsdroge für Schönheitsexperimente und Selbstdarstellung" geworden. Gerade in Verbindung mit Tiktok, wo "Nail Art" zu den beliebtesten Kategorien überhaupt gehört. Vielen geht es nicht in erster Linie um Mode und Ästhetik, sondern gewissermaßen um SolidaritätWir halten fest: Die Langeweile im Lockdown und eine Video-App haben offenbar viele junge Männer in letzter Zeit zum Lackieren gebracht. Dazu kommt aber natürlich der generationale Überbau. Denn die Generation Z stellt ja ohnehin sehr grundsätzlich infrage, ob und wie weit die klassischen Gendernormen eigentlich noch für sie brauchbar sind. So ist es kein Zufall, dass die derzeit wohl hippste Rockband der Welt, Måneskin, aus Männern besteht, die ganz selbstverständlich Perlenketten, Lippenstift und Frauenkleider tragen. Und nicht umsonst ist der größte Filmstar dieser Generation der 25-jährige Timothée Chalamet, dessen irritierend non-toxischer Charme ihn gerade in gefühlt jede zweite hochkarätige Hollywood-Produktion katapultiert und den das Time-Magazin gerade als "Next Generation Leader" auf sein Cover gepackt hat. Unnötig zu sagen, dass auch Chalamet häufig mit bunt lackierten Nägeln zu sehen ist. Es geht vielen dieser Männern dabei also vermutlich nicht in erster Linie um Mode und Ästhetik. Sondern um das Verwischen der Geschlechtergrenzen, das Überwinden klassischer Merkmale von Hetero- und Homosexualität. Wenn man so will: ein Zeichen der Solidarität mit sexuellen Identitäten, die für das Tragen von Nagellack an vielen Orten noch heute diskriminiert werden. Schon klar, zehn Lacktupfer auf den Fingern mögen auch einfach nur lustig aussehen. Sie signalisieren aber auch: Liebe Standard-Heteromänner, die ihr euch hierüber aufregt - ich gehöre nicht zu euch. Nagellack bei Männern wirkt im ersten Moment ungewohnt, kommt aber immer öfter vor. Durch den Nagellack können Männer ihrem Look nicht nur einen speziellen Touch verpassen, sondern auch mit veralteten Geschlechterklischees aufräumen oder gar eine gute Sache unterstützen. Früher haben große Rockikonen wie Mick Jagger oder Kurt Cobain ihre Fingernägel lackiert, um sich von der Masse abzusetzen. Heutzutage haben lackierte Fingernägel bei Männern nicht mehr zwangsläufig etwas mit Rockmusik und Abgrenzung zu anderen Menschen zu tun.
Immer mehr Männer tragen Nagellack - aus unterschiedlichen Gründenimago images / Pius Koller Bei manchen sind die lackierten Fingernägel nicht nur ein modischer Hingucker. Hinter dem Trend, dass Männer unter dem Hashtag "#Polishedman" Bilder von sich mit nur einem lackierten Fingernagel posten, steckt zum Beispiel ein wichtiger Spendenaufruf. Die Aktion wurde von dem US-Amerikaner Elliot Costello ins Leben gerufen.
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