Wie viele Obdachlose gibt es auf der Welt 2022

In Deutschland wurden im vergangenen Jahr mindestens 16 Obdachlose getötet. Dies geht aus einer systematischen Presseauswertung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) hervor, die WELT vorliegt. Demnach waren die Täter in acht der tödlichen Gewaltfälle ebenfalls obdachlos. Von den tödlichen Gewalttaten im Jahr 2021 waren 15 Männer und eine Frau betroffen. Die BAGW dokumentierte zudem 142 weitere Gewaltfälle, bei denen 169 Menschen ohne Wohnung verletzt wurden.

In beiden Statistiken geht der Dachverband der Wohnungslosenhilfe von deutlich höheren Dunkelziffern aus, da ausschließlich Fälle in ihre Dokumentation einfließen, über die lokale oder bundesweite Medien berichten.

Zudem gebe es viele wohnungslose Frauen, die unter sexualisierter Gewalt litten, die im Verborgenen passiere und in der Auswertung unsichtbar bleibe, da es weder Anzeigen noch Berichterstattung über einzelne Fälle gebe. So würden in sogenannten Mitwohnverhältnissen häufig sexuelle Dienste als „Gegenleistungen“ verlangt oder erpresst.

„Gewalt gegen Obdachlose ist ein Dauerbrenner. Seit Beginn unserer Dokumentation im Jahr 1989 sind die schweren und tödlichen Gewaltfälle auf einem hohen Niveau“, sagt die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Werena Rosenke. Von den nicht-wohnungslosen Tätern würden die Betroffenen häufig als minderwertig betrachtet, mit denen man machen könne, was man wolle, da sich sowieso niemand darum kümmere.

Offene Gewalt sei dabei nur das deutlichste Zeichen von Missachtung und Stigmatisierung. „Solange Menschen gezwungen sind oder sich gezwungen sehen, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten, und solange diese Menschen stigmatisiert und diskriminiert werden, werden sie leicht zum Opfer“, so Rosenke.

Es sind grausame Nachrichten, die der Verband das ganze Jahr über dokumentiert. Bei zahlreichen Fällen vermutet die BAGW einen sozialdarwinistischen Hintergrund. In solchen Fällen gehen die Täter davon aus, dass ihre Opfer aufgrund der Wohnungslosigkeit minderwertig, arbeitsscheu oder gar lebensunwert seien.

So wurden etwa am 31. Januar 2021 in Berlin zwei 60-jährige Obdachlose aus solchen Motiven verletzt: Ein Mann warf zunächst einen E-Scooter auf einen Schlafenden, attackierte einen Zweiten mit Tritten und beschimpfte beide währenddessen herablassend.

Am 26. Februar wurde ein 59-jähriger Obdachloser in der Hauptstadt von drei männlichen Jugendlichen aus einem Zelt getrieben und mit Stöcken geschlagen. Im Oktober und November gab es in Köln mindestens zehn Farbattacken auf Obdachlose: Während sie schliefen, wurden sie mit weißer Farbe übergossen. Ein Serientäter wird vermutet.

WELT zeigte in einer Recherche im Jahr 2021, dass in den vorherigen Jahren viele schwere Gewalttaten gegen Obdachlose aus den vergangenen Jahren straffrei blieben. Die Recherche machte zudem zwei Fälle von tödlicher Gewalt gegen Obdachlose bekannt, die von den Behörden nicht als politisch motivierte Tötungsdelikte aufgeführt werden, obwohl in den Gerichtsurteilen sozialdarwinistische Motive genannt werden.

BAGW-Geschäftsführerin Rosenke fordert einen Perspektivwechsel: Obdachlose müssten als potenzielle Gewaltopfer und nicht als Störung der öffentlichen Ordnung wahrgenommen werden. Zudem brauche es mehr Chancen für die Menschen, „die eigene Tür zumachen zu können“, um in Sicherheit zu sein. „Der beste Schutz vor Gewalt ist die eigene Wohnung.“

Die Presseauswertung umfasst auch 74 Gewaltfälle unter Wohnungslosen. In den meisten Fällen sind dabei Obdachlosenunterkünfte die Tatorte, noch vor Bahnhöfen oder anderen Orten des öffentlichen Raums. Zu den Hintergründen ist dort etwa vermerkt: Streit unter Bekannten, Streit über die Aufteilung des Zimmers, Streit um einen trockenen Schlafplatz, Streit über geklaute Pfandflaschen, Geldschulden, Raub.

„Die wohnungslosen Täter sind selbst für ihr Handeln verantwortlich. Dennoch ist es wichtig zu analysieren, welche Umstände in der Lebenssituation oder der Unterbringung zu einer geringen Toleranzschwelle führen“, sagt Rosenke.

Das Leben auf der Straße oder in dicht belegten Notunterkünften sei äußerst prekär, Obdachlose stünden unter Dauerstress. „Wenn man wenig hat und dann noch jemand einem etwas wegnehmen will, kann das eine Situation schnell eskalieren lassen.“ Für eine höhere Sicherheit in den Unterkünften bräuchte es bessere Standards bezüglich der Belegung, des Personalschlüssels und der Schulung des Personals.

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Ausland NGO-Mitarbeiter empört

Veröffentlicht am 13.03.2022

Wie viele Obdachlose gibt es auf der Welt 2022
Wie viele Obdachlose gibt es auf der Welt 2022

Räumung eines Straßencamps für Obdachlose in Seattle - zahlreiche US-Metropolen tolerieren diese Hotspots nicht mehr

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Durch die Corona-Pandemie hat sich die Lage von wohnungslosen Menschen in den USA zugespitzt. Überwältigt von immer neuen Camps im öffentlichen Raum, rücken viele Kommunen nun von der Politik der Toleranz ab. Hilfsorganisationen sind entsetzt.

Zeltstädte säumen die Gehwege, Behelfsunterkünfte grenzen an viel befahrene Straßen, und vor Ladeneingängen liegen Schlafsäcke: Die Obdachlosen-Krise in Portland ist nicht zu übersehen. „Es wäre idiotisch zu sagen, dass sich die Lage in den vergangenen fünf Jahren verbessert hat“, sagte Ted Wheeler, Bürgermeister der größten Stadt im US-Bundesstaat Oregon, kürzlich.

Seit Beginn der Corona-Pandemie waren wohnungslose Menschen in den USA weitgehend sich selbst überlassen worden. Viele Städte stellten auf Rat der Gesundheitsbehörden ihre Arbeit in Obdachlosen-Camps ein. Daraufhin geriet die Situation vielerorts außer Kontrolle, die extreme Armut verlagerte sich großflächig in die Innenstädte. Frustrierte Anwohner riefen zum Handeln auf.

Bürgermeister Wheeler griff nun auf Notstandsgesetze zurück, um das Campieren entlang bestimmter Straßen zu verbieten. Obdachlosigkeit sei „ohne Einschränkung das wichtigste Thema für unsere Gemeinde“, sagte er.

In anderen liberalen Städten des Landes sieht es ähnlich aus. Lange wurden dort Menschen, die in Zelten an öffentlichen Orten leben, toleriert. Doch nun lassen die Kommunen zunehmend Behausungen entfernen und ergreifen andere strenge Maßnahmen, die noch vor ein paar Jahren undenkbar waren.

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Helft uns, vertreibt uns nicht - so liest sich sinngemäß die Botschaft an diesem Zelt von Obdachlosen

In Seattle etwa geht der neue Bürgermeister Bruce Harrell gegen Lager von wohnungslosen Menschen vor, vor allem gegen auffällige Zeltstädte. In Washington startete Bürgermeisterin Muriel Bowser im Sommer vergangenen Jahres ein Pilotprogramm, um mehrere Obdachlosen-Camps aufzulösen.

Auch in Kalifornien, wo mehr als 160.000 Wohnungslose leben, suchen die Städte nach neuen Wegen. Der Stadtrat von Los Angeles verbot per Gesetz Camps an 54 Standorten. Der Bürgermeisterkandidat Joe Buscaino will Obdachlosen das Übernachten im Freien an öffentlichen Orten untersagen, falls sie zuvor einen Platz in einer Unterkunft ausgeschlagen haben.

Die Bürgermeisterin von San Francisco, London Breed, verhängte im Dezember den Notstand über das berüchtigte Viertel Tenderloin, das als Zentrum von Drogenhandel und Obdachlosigkeit gilt. Es sei an der Zeit, aggressiv vorzugehen und „weniger tolerant zu sein gegenüber diesem Quatsch – der unsere Stadt zerstört hat“, sagte sie.

In Sacramento könnten die Wähler im November über mehrere Initiativen in der Obdachlosen-Politik abstimmen. Dazu gehört es, mehrere Tausend Schlafplätze zu schaffen. Die Lokalpolitik steht unter zunehmendem Druck, von ihrem bisherigen liberalen Kurs abzuweichen. Unter anderem fordern Umweltschützer die Räumung von Unterkünften in Parks, in denen 750 Menschen leben.

Obdachlosen-Initiativen kritisieren das aggressive Vorgehen. Statt als humanitäre Krise werde das Problem behandelt wie eine optische Verschandelung der Umwelt, beklagen sie. In mindestens 65 US-Städten würden Obdachlosen-Camps kriminalisiert oder geräumt, sagt Donald H. Whitehead Jr. von der Nationalen Koalition für Obdachlose: „Das ist immer die Reaktion, wenn irgendwo viele wohnungslose Menschen leben.“

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Zelte in einem Park in Sacramento. US-Umweltschützer fordern immer öfter die Räumung von Grünflächen

In Portland hat sich die Krise in den vergangenen Jahren sichtlich verschärft. Bei einer Zählung 2019 waren dort gut 4000 Obdachlose registriert worden, die Hälfte von ihnen ohne Unterkunft oder mit einem Schlafplatz im Freien. Nach Angaben von Aktivisten dürfte die Zahl inzwischen deutlich gestiegen sein.

Wheeler hat im Februar das Campieren am Rand gefährlicher Straßen verboten, die etwa acht Prozent des gesamten Stadtgebietes ausmachen. Die Entscheidung folgt auf die Veröffentlichung eines Berichts, wonach 19 der insgesamt 27 im vergangenen Jahr in Portland bei Autounfällen ums Leben gekommenen Fußgänger Obdachlose waren. „Es ist sehr deutlich geworden, dass Menschen sterben“, sagte der Bürgermeister. „Deshalb behandele ich das mit Dringlichkeit.“

Wheelers Chefberater Sam Adams, ein ehemaliger Bürgermeister von Portland, legte einen kontroversen Plan vor: Demnach sollen bis zu 3000 Obdachlose zwangsweise in Großunterkünften untergebracht werden. Aktivisten sprechen von einer Kriminalisierung von Obdachlosigkeit. Die demokratische Gouverneurin von Oregon wies den Vorschlag zurück.

Die Situation wirkt sich auch auf das Geschäftsleben und auf Veranstaltungen aus. Unter anderem wurde das größte jährliche Golfturnier in Oregon aus Portland abgezogen – aus Sicherheitsbedenken in Zusammenhang mit einem nahe gelegenen Obdachlosen-Lager.

Auch im linksgerichteten Austin in Texas hat sich der Kurs verschärft. Im vergangenen Jahr stimmten die Wähler dort dafür, dass ein Verbot wieder eingeführt wird, demzufolge in der Innenstadt und nahe der Universität von Texas nicht campiert werden darf. Außerdem wurde das Betteln um Geld in bestimmten Gebieten und zu bestimmten Zeiten untersagt.

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Obdachlosen-Organisationen beklagen, dass solche temporären Maßnahmen eine ohnehin vulnerable Gruppe weiter traumatisierten und diffamierten. Sie rufen Bürgermeister auf, stattdessen auf langfristige Lösungen zu setzen, wie die Schaffung von Wohnraum sowie den Kampf gegen Armut und Drogenabhängigkeit.

Einige Experten bezweifeln zudem, ob das härtere Vorgehen legal ist. Sie verweisen auf ein bundesgerichtliches Urteil aus dem Jahr 2018: Demnach dürfen Städte es Menschen nicht verbieten, im Freien zu schlafen oder sich auszuruhen, ohne ausreichende Plätze in Einrichtungen zur Verfügung zu stellen.